Wenn Kickstarter-Projekte scheitern, können alle dabei zusehen
Im Sommer 2017 erhielten knapp 1.500 Kickstarter-Nutzer*innen eine unerwartete Mail mit einem Key für das Spiel Dysfunctional Systems. Die Mail war deshalb unerwartet, weil der Entwickler Dischan die Entwicklung des Projekts zwei Jahre zuvor für gescheitert erklärt hatte. Dass nicht jedes Projekt auf Kickstarter erfolgreich ist, gehört zum Konzept des Crowdfundings. Trotz dieses Risikos wurde bis heute mehr als eine Milliarde US-Dollar an Spieleentwickler*innen ausgezahlt, um ihren Traum zu verwirklichen.
Es sind vor allem kleine Projekte: 90 Prozent der über Kickstarter finanzierten Spiele verfügen über weniger als 100.000 US-Dollar. In diesen knapp berechneten Budgets ist kaum Zeit für Fehler vorgesehen. "Ich denke im Nachhinein ist meine größte Erkenntnis, dass wir auch gescheitert wären, wenn wir genau das produziert hätten, was wir anfangs versprochen haben", resümiert Jeremy Miller, der Gründer des Indiestudios Dischan. Als er 2014 für die zweite Episode seiner Visual Novel auf Kickstarter setzte, ahnte er noch nicht, wie lange ihn das Projekt beschäftigen sollte.
Die erfolgreiche Kickstarter-Kampagne ist nur der Anfang
Denn die Formulierung auf Kickstarters Webseite erweckt den Eindruck, mit dem Erreichen der Mindestsumme wäre der Erfolg schon sicher: "1.457 Unterstützer*innen trugen 67.450 CA$ bei, um dieses Projekt zu verwirklichen." Dabei zeigt sich erst im Nachhinein, ob der angekündigte Zeitplan für die oft unerfahrenen Teams wirklich machbar ist. "Nach Abzug der Gebühren bekamen wir knapp 40.000 Euro ausgezahlt", erinnert sich Miller. "Das klingt nach einer Menge Geld, aber für eine Firma ist das nicht viel. Ein Team von fünf Leuten kann damit nur drei Monate angemessen bezahlt werden."
Als das Geld neun Monate nach der Finanzierung endgültig ausging, musste Miller das Team entlassen. "Einige wollten ohne Bezahlung weitermachen, aber das hätte das Unausweichliche nur aufgeschoben. Es war besser für alle, loszulassen", sagt er. Das hieß, die Unterstützer*innen zu enttäuschen. "Vielleicht war das die falsche Entscheidung. Es war damals schwierig und ist es heute immer noch." Das Team aus Hobbyisten scheiterte an der Professionalisierung. Um den schleppenden Fortschritt auszugleichen, wurde ein strikterer Zeitplan eingeführt. Dieser resultierte aber in einem Einbruch der Qualität der Arbeit. Gleichzeitig waren die Aufgaben im Team ungleich verteilt. Das alles führte am Ende zu einem Motivationsverlust, der die Probleme nur verstärkte.
Für Indiegames ist Crowdfunding eine reizvolle Option. Ohne Publisher im Rücken sind kleine Teams häufig auf ihr Erspartes angewiesen. Neben dem Startkapital ist "die größte Auswirkung die Aufmerksamkeit, die man bekommt", sagt Jon Shafer über seine Erfahrung mit Kickstarter. Der Lead-Designer von Civilization V wollte ein eigenes Spiel entwickeln und machte sich mit dem Strategiespiel At The Gates selbstständig. "Aufmerksamkeit ist eine gute Sache, wenn man einem Publikum ein Produkt verkaufen will. Aber es macht es auch schwieriger, wenn man noch versucht herauszufinden, was dieses Produkt sein soll", sagt er.
Entwickeln, solange das Geld reicht
Nach dem erfolgreichen Start der Kampagne lief bei dem ambitionierten Projekt nicht alles rund. Shafer arbeitete größtenteils allein an At The Gates und isolierte sich zunehmend, erprobte und verwarf Spielmechaniken auf der Suche nach dem, was sein Spiel einmal werden sollte. Die Abstände zwischen den Updates für seine Unterstützer*innen wuchsen in dieser Zeit. Der zähe Fortschritt führte zwangsläufig zu Geldproblemen. Im Laufe der Entwicklung brauchte Shafer nicht nur das Budget von Kickstarter, sondern auch seine gesamte Altersvorsorge auf. Die Arbeit an At The Gates ganz abzubrechen, kam für ihn trotzdem nie in Frage: "Weiterzuziehen mag für manche die richtige Entscheidung sein, wenn sie in einer ähnlich schwierigen Situation sind. Für mich hat es sich an keinem Punkt richtig angefühlt."
Kickstarter selbst gibt keine Garantie für die Fertigstellung von Projekten. Laut einer Studie der University of Pennsylvania endet knapp jedes zehnte zunächst erfolgreich finanzierte Projekt später als Fehlschlag. Während einige Projekte dem Konflikt mit ihren enttäuschten Unterstützer*innen durch Funkstille ausweichen, gingen Shafer und Miller offen damit um, dass ihre Spiele nicht den nötigen Fortschritt machten. "Einige Fans und Backer*innen zeigten Verständnis, andere weniger", erinnert sich Miller an die Reaktionen, als er das vorläufige Ende von Dysfunctional Systems verkündete. "Einer hat sogar meine Adresse herausgefunden und mit wütenden Briefen eine Rückerstattung verlangt", sagt er. "Später hat er eine Mail an meinen damaligen Arbeitgeber geschickt und mich auf verschiedene Arten herabgewürdigt."
Die meisten Unterstützer*innen hätten aber auf eine Rückerstattung verzichtet. "Insgesamt haben wir 12 Prozent der von Kickstarter erhaltenen Summe zurückgezahlt", sagt Miller. "Das mag nicht nach viel klingen, aber da unser Budget bereits für Gehälter aufgebraucht war, hat es eine Weile gedauert, das Geld zusammenzukriegen."
Aus Fehlern lässt sich lernen
Die Reaktionen bei Shafer waren positiver: "Ich erhielt viele unterstützende Nachrichten. Die Geschichte hinter der Entwicklung hat vermutlich geholfen, einige Kritik an der Verspätung von vier Jahren abzumildern." Er verarbeitete seine Odyssee in einem Blogpost mit dem Titel Wie At The Gates mich sieben Jahre meines Lebens gekostet hat - und beinahe den Rest. Darin zählt er die Ursachen für die Verzögerung auf, aber auch ihre Folgen für seine Gesundheit.
Er hofft, dass seine Erfahrung anderen Entwickler*innen hilft: "Sich ohne Ausgleich in die Arbeit zu werfen, ist nicht nur für dich persönlich schlecht, sondern auch für das Spiel. Man muss auf sich selbst achtgeben, um das bestmögliche Spiel zu machen." Abstand von seinem Projekt zu nehmen könne helfen, die notwendige Energie und Begeisterung zurückzugewinnen. Nachdem Shafer ein halbes Jahr als Angestellter gearbeitet hatte, fand er diese Energie für sein eigenes Projekt wieder. Fast auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Start der Kickstarter-Kampagne erschien At The Gates. "Ich würde nicht sagen, dass es bei der Veröffentlichung noch eine riesige Begeisterung gab", sagt Shafer. "Aber immerhin hatte das Projekt kein enttäuschendes Ende, wie es bei Kickstarter so oft der Fall ist."
Shafer glaubt, dass ein großer Teil des ursprünglichen Publikums sich über die Jahre anderen Spielen zugewendet hat: "Über den Verlauf von sechs Jahren wird sich deine Haltung gegenüber allem ziemlich dramatisch verändern. Das war bei At The Gates nicht anders."
Auch Dysfunctional Systems erscheint am Ende doch noch. Das verbliebene Team von Dischan stellt das Projekt in seiner Freizeit fertig - mit fast drei Jahren Verspätung und zur Überraschung der Unterstützer*innen. Heute lebt Dischan von Auftragsarbeiten. Ihre eigenen Spiele entwickeln sie ohne Zeitdruck. "Um ehrlich zu sein, ist es ganz nett, ohne die Erwartungshaltung vieler wartender Leute zu arbeiten", sagt Miller. "Wenn wir Zeit haben, arbeiten wir weiter an der nächsten Episode von Dysfunctional Systems. Deshalb wird es vermutlich noch eine Weile dauern, bis sie fertig ist." Miller wirkt dennoch weder frustriert noch resigniert. "Ich denke, das ist ganz gut so."
Dieser Artikel ist ursprünglich am 3. Juli 2019 bei Golem erschienen. Mitglieder von Superlevel können das ganze Interview mit Jon Shafer hier nachlesen: