So historisch (un)korrekt ist das Schloss von Lady Dimitrescu
"Dieses Bild könnte es kunsthistorisch so gar nicht geben", sagt eine Kunsthistorikerin. Wir erklären Ungereimtheiten in Resident Evil Village – und wieso sie egal sind.
Ob Videospiele Kunst sind, wird phasenweise heiß diskutiert. Doch wie sieht es andersherum mit der Kunst in Spielen aus? Was macht es mit Spielenden, wenn Gemälde im Hintergrund hängen, wenn ein Schloss bestimmte architektonische Stile abbildet oder Charaktere nach historischen Vorlagen designt werden, so wie in Resident Evil Village?
Noch lange bevor Spieler*innen als Ethan Winters das Schloss Dimitrescu im achten Teil der Horror-Reihe betreten, sehen sie aus der Ferne seine schneebedeckten Dächer. Wer sich beim Anblick der zahlreichen Türmchen, bogenförmigen Fenster und geschwungenen Zinnen an Schloss Neuschwanstein erinnert fühlt, liegt nicht falsch. Das Beispiel aus dem Allgäu wurde laut Dr. Sophia Kunze im Sinne vergangener Stile gebaut, die nicht akkurat kopiert und miteinander vermischt wurden. Kunze ist Kunsthistorikerin und forscht unter anderem zu Bildsprache in Computerspielen.
Wie das echte Schloss sei auch Schloss Dimitrescu dem Historismus zuzuordnen und nur eine Sammlung an "Versatzstücken aus allen möglichen historischen Epochen", so Kunze. Die klassische romanische Fensteraufteilung passe beispielsweise nicht zur Architektur der Dächer. Im Vordergrund steht laut der Kunsthistorikerin ein ästhetisches Gefühl statt historischer Akkuratesse.
Twilight-Vampire von 1846
Ähnlich verhält es sich mit dem Porträt der drei Schwestern, die das Schloss bewohnen. Friedlich blicken sie zwischen ihren Locken hindurch auf die Beobachter*innen . Die Blümchen im Haar lassen nichts Böses erahnen, sie lächeln sogar ein wenig. Das Gemälde ist das erste, das Spieler*innen sehen, wenn sie das Schloss betreten. Die Bildformel erinnere an die drei Grazien aus der griechischen Mythologie oder antike Musen, wie Kunze erläutert: "Diese Korkenzieherlocken sind auf jeden Fall aus dem 19. Jahrhundert und mit der Landschaft im Hintergrund ist es ein typisches romantisches Schwesternporträt.
Findige Reddit-User*innen haben bereits die Verbindung zu einem Gemälde des französischen Malers George Theodore Berthon gefunden, der 1846 die Robinson-Schwestern in Anlehnung an eben jene Grazien malte. Laut Kunze sei es für Adelige durchaus üblich gewesen, sich so porträtieren zu lassen.
Im Gegensatz zu ihren Töchtern, die abseits dieses Porträts "wie Twilight-Vampire, typisch dünn, blass und mit langen Zähnen" inszeniert sind, laut Kunze also einer neuzeitlichen Vorstellungen von Blutsauger*innen entsprechen, versprüht Lady Dimitrescu mehr Charisma. Laut den Entwickler*innen waren hauptsächlich eine urbane Legende aus Japan namens Hasshaku-sama (übersetzt in etwa "Frau Acht Fuß groß") und der New Look der 50er und 60er Jahre Inspiration für das Design der Hausherrin. Das Modehaus Dior interpretierte die Bewegung seinerzeit mit Perlenketten und opulenten Hüten, die beide auch im Design von Lady Dimitrescu Verwendung finden.
Zwischen Femme Fatale und Dracula
Ihr Gemälde finden Spielende im Schloss erst gegen Ende, kurz bevor sie ihre menschliche Gestalt verlässt und der eigentliche Bosskampf beginnt. "Formal ist es ein Herrscherporträt, weil Ganzkörperporträts mit Füßen (in der Kunstgeschichte) nur Herrschern vorbehalten sind", erklärt Kunze. "Die Kleidung ist eher barock, die freien Schultern würden aber in einem Herrscherporträt niemals gehen, das gibt es jenseits von Darstellungen von mythischen Figuren oder Kurtisanen in der Kunst erst im späten 19. Jahrhundert im Porträt."
"Dieses Bild könnte es also kunsthistorisch so gar nicht geben", sagt Kunze. "Im Spiel ist es aber sinnvoll konzipiert – es zeigt ihr Alter, ihre Macht, und verweist auf die erotische Qualität." Insbesondere letzteres lässt sich direkt mit einem Frauentypus in Verbindung bringen, der dafür bekannt ist – in diesem Fall wortwörtlich – Männer zu verzehren: Femme Fatale. Das Motiv gibt es schon länger, doch ab der Jahrhundertwende wurde es besonders häufig zitiert. Aus dieser Ära, so Kunze, stammen auch Geschichten rund um Vampire, nicht zuletzt Bram Stokers Dracula, die oft mit diesem Frauentypus in Verbindung gebracht würden.
Ebenso wie die Charaktere weisen die Räume des Schlosses eine Mischung verschiedener Epochen und Stile auf. "Die Innenausstattung greift barocke und romantische Elemente auf", weiß Kunze. "Generell folgen solche Architekturen immer bestimmten formalen Prinzipien. Zum Beispiel sind Empfangshallen der Ort des Eintritts und zum Beeindrucken und Repräsentieren gedacht. Das wird im Spiel sehr gut reproduziert". In der Eingangshalle, dem Hub des Levels, treffen Säulen auf Statuen, herrliche Kronleuchter auf ausgefallene Wandgestaltung, Antike und Renaissance auf Barock.
GEE ist zurück!
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Jetzt bestellen"Für die Spielerin ist das natürlich egal"
"In der kunsthistorischen Analyse kann man das aufschlüsseln, aber für die Spielerin ist das natürlich egal", führt Kunze aus. Aber: "Hätte es einen Mehrwert fürs Spiel, wenn es sauber und konsequent durchgezogen ist?" Vorrangig ginge es darum, welche Assoziationen Spieler*innen haben und wie das Spiel mit dem Design der Räume und der Charaktere vermittelt, was passiert und um was es geht.
Die Inkonsistenz der dargebotenen Kunst zieht sich durch das gesamte Level: In einem abgelegenen Teil des Schlosses ist ein Kriegerfries zu finden, wie es auch antike Sargreliefs aufweisen. Lady Dimitrescus Gemach wiederum erinnert an Versailles, das Prunkschloss, in dem drei französische Könige residierten und das Land finanziell ruinierten, bis die Französische Revolution dem ein Ende setzte.
Verteilt im ganzen Schloss können Spieler*innen Gemälde einer Seeschlacht oder bürgerliche Porträts bestaunen, wie es sie erst ab dem 19. Jahrhundert gegeben hat. Das "korrespondiert zeitlich überhaupt nicht mit dem Porträt der drei Töchter", wie Kunze zu denken gibt. Gleichzeitig erklärt sie, dass wohlhabende Schlossbewohner*innen oft Kunst aus allen möglichen Epochen gesammelt haben, was Lady Dimitrescu in diesem Fall zu einer mehr oder weniger versierten Kunstsammlerin macht. Ein weiteres Indiz für ihre Macht und ihr Alter.
Letztendlich sei es aber vollkommen egal, ob die Kunst im Hintergrund authentisch ist oder nicht. Sophia Kunze meint: "Es ist für Spieler*innen nie relevant, dass man es rational historisch einordnen kann". Viel wichtiger sei, dass Spielende verstehen, was vermittelt werden soll. Dass Affekte ausgelöst werden, die den Spieler*innen ohne Text Inhalte des Spiels verdeutlichen.
Klischees helfen beim Environmental Storytelling
Was Forscher*innen und Game Designer*innen Environmental Storytelling nennen, ist nicht nur auf die narrative Ebene beschränkt, sondern beeinflusst die ganze Spielerfahrung. "Für die Immersion im Spiel braucht es Stimmigkeit in der Welt: Sounds passen zur Optik, die Optik passt zur Story, die Story passt zu den Bewegungsmustern. Alles muss eine kohärente Einheit bilden und das wird oft visuell auf der Basis von Anspielungen gemacht." Dazu zählen auch Anspielungen wie Neuschwanstein oder Versailles, wie barocke Sessel und bürgerliche Porträts, die Spieler*innen zumindest grob einordnen können, weil sie immer und immer wieder rezitiert werden. Im Grunde sei das ganze Spiel eklektizistisch, erläutert Kunze. Es greife also auf ikonische Bildformeln zurück, "die wir mit einem bestimmten Gefühl von Geschichte und resultierenden Assoziationen verbinden".
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass visuelle Elemente möglichst stereotypisch sein müssen, um verstanden zu werden. "Um Assoziationen auszulösen, die auch noch bei möglichst vielen Spieler*innen ähnlich wahrgenommen werden, muss alles möglichst simpel und allgemeingültig sein. Dadurch befördert Gaming massiv die Stereotypisierung von Bildformen." Resident Evil Village sei dafür ein Paradebeispiel, zitiert quer durch die Menschheitsgeschichte und zeichnet dabei trotzdem ein Bild, das wir verstehen. Mit Authentizität haben viele der Details wenig zu tun, aber historische Genauigkeit spielt weniger eine Rolle als die Tatsache, dass Spieler*innen sich ihren Teil denken können.
Schloss Dimitrescu ist nur ein Beispiel von vielen. Sei es eine alternative Version des viktorianischen Londons in Bloodborne oder Dishonored oder das fiktive Hope County im realen Bundesstaat Montana aus Far Cry 5. In den meisten Fällen reichen vage Anspielungen an die realen Orte und Figuren. Es bedarf nicht der absoluten Genauigkeit eines Assassin’s Creed Unity, um Spielenden ein Gefühl für die Welt und ihre Charaktere zu geben. Es wird eine Stimmung transportiert, keine Informationen zur Geschichte, die sie inspiriert hat – auch wenn die vermeintliche Authentizität am Ende doch unser Geschichtsverständnis beeinflusst.