Das Berlin aus The Bus schwankt zwischen Detailtreue und Füllmaterial
Videospiele entführen uns in weite Welten, in denen Spieler*innen schon fast wie Tourist*innen agieren. Kann man das auch über die Simulation The Bus sagen, das nur im nahen Berlin spielt?
Fantastische Welten, die Abenteuer versprechen, gehören in AAA-Videospielen wie Assassin’s Creed Odyssey, Cyberpunk 2077 oder Ghost of Tsushima zur Erfolgsformel dazu. Wenn Spieler*innen nicht so oder so schon neugierig sind und die ungewohnten Landschaften auf eigene Faust erkunden, schicken Quests Spieler*innen in die weite virtuelle Welt.
Videospiele als eine Reise, vielleicht sogar als eine touristische Erfahrung anzusehen, ist nicht zuletzt durch die Würdigung des mittlerweile gängigen Fotomodus bestätigt. Beim London Games Festival gibt es mit Virtual Photographer of the Year einen eigenen Preis, den dieses Jahr Joe Meizies mit einem Foto aus Red Dead Redemption 2 gewonnen hat. Laut Festivaldirektor Michael French sei gerade dieser Wettbewerb "ein echtes Highlight".
Bei all den Möglichkeiten für epische Abenteuer in Videospielen mag eine Reise nach Berlin vergleichsweise dröge klingen. The Bus von Aerosoft will Spielende mit einer 1:1-Rekonstruktion der Hauptstadt und einem Linienbus als Fortbewegungsmittel vom Gegenteil überzeugen. In der Umsetzung orientiert sich The Bus an AAA-Standards mit Tageszeiten- und Wettersimulationen, die Berlin in verschiedenen meteorologischen Atmosphären scheinen lässt.
Einige Aspekte des Spiels lehnen sich also an den Maßstäben der Videospielindustrie an, immer größere Welten inszenieren zu wollen. Aber kann The Bus Spieler*innen etwas Neues über das Erkunden und das Reisen im digitalen Berlin oder gar in Videospielen vermitteln?
"Das Spannende in Berlin ist eigentlich, dass es so viele Möglichkeiten gibt und diese Vielfalt abzubilden ist extrem aufwendig", sagt Pressesprecher Christian Tänzler von visitBerlin, dem offiziellen Reiseportal der Hauptstadt. Alleine Informationen für visitBerlin aufzubereiten sei für ihn eine Herausforderung – für ein Videospiel könnte die Dichte und Vielfalt daher sowohl Chancen als auch Risiken beherbergen.
Auf der Suche nach einem touristischen Erlebnis
Hinsichtlich der Spielmechanik sparen die Entwickler*innen schon mal nicht an Komplexität. Neben der Auswahl von Busrouten, Busmodellen und Wahl der Ausgangsshaltestelle sind auch Zeit und Wetter konfigurierbar. Im Early Access lassen sich momentan die Linien 200 zwischen Hertzallee und Michelangelostraße, sowie TXL zwischen dem ehemaligen Flughafen Tegel und Alexanderplatz befahren. Obwohl die Linie 100, die von TML-Studios in einem Interview mit NPLAY bereits 2017 als der "Touri-Bus" bezeichnet wird, noch nicht spielbar ist, beschreiben die Entwickler*innen die Busfahrten als "eine Möglichkeit Berlin mal kennenzulernen, [...] um dann auch mal einen echten Trip dorthin zu machen."
Um so schnell wie möglich zu den bekanntesten Orten in Berlin zu kommen, empfiehlt sich derzeit ein Start der TXL-Route am Alexanderplatz. "Für die Gäste, die das erste Mal nach Berlin kommen, ist eine touristische Erfahrung natürlich, dass sie erstmal alle Hauptsehenswürdigkeiten sehen", so Tänzler. "Die wichtigste Sehenswürdigkeit ist wohl das Brandenburger Tor."
Trotz seines realistischen Anspruchs inklusive Drucken des korrekten Tickets bietet The Bus dann doch etwas mehr Freiheit als erwartet. Statt nach der Haltestelle Brandenburger Tor die Fahrt wieder aufzunehmen, lässt sich der Bus samt Fahrgästen mitten auf dem Pariser Platz parken, die Umgebung zu Fuß erkunden und bekannte Orientierungspunkte wie das Adlon Hotel oder die Botschaft der Vereinigten Staaten fotografisch festhalten.
Die teils vielfältigen und komplexen Optionen für Spielfotografie und diversen Wettersimulationen sind symptomatisch für die derzeitige Generation von Videospielen, die Spieler*innen dieselben Räume und Orte immer wieder erneut erleben lassen. Nicht zuletzt hatte Ghost of Tsushima jenseits Zeit- und Wetteroptionen auch diverse Filter, um die Ästhetik von Samurai-Filmen zu simulieren. Und die New Yorker Skyline in Spider-Man aus dem Jahr 2018 dient nicht nur als ikonische Kulisse zum Fotografieren, sondern wird mit Peter Parker vervollständigt, der fröhlich in seine Handykamera mit dem Peace-Zeichen für ein Selfie posiert. Landschaften in Spielen wie diesen funktionieren also nicht nur als Kulissen für virtuelle Fotografie, sondern schlagen in andere Medien und Popkultur über, wie in etwa Filme oder Comics.
Zwischen Highlights und Füllmaterial
Auf die Frage, ob Videospiele Reisen ersetzen könnten, zeigt sich Tänzler eher skeptisch. Keine Reise ist gleich der anderen, erklärt er, und je nach Gruppierungen seien die Interessen gänzlich anders. Insbesondere für Gäste, die nicht das erste Mal Berlin besuchen, seien die Hauptsehenswürdigkeiten wie das Brandenburger Tor, das Regierungsviertel und das Reichstagsgebäude nicht unbedingt relevant. Stattdessen sind kulturelle Erfahrungen wie in etwa Konzerte oder Museen wie das Computerspielmuseum von Interesse. In den letzten Jahren erfährt auch die Gastronomie in Berlin ein erhöhtes Besucher*innenaufkommen von Touristen.
In einem direkten Zahlenvergleich ist The Bus klar eine Nische. Im April 2022 erreichte das Spiel auf Steam ein Hoch von 127 gleichzeitigen Spieler*innen. Den höchsten Wert konnte das Spiel mit 1646 Spieler*innen kurz nach dem Beginn des Early Access im März 2021 verzeichnen. Berlins Touristenbranche hat im Vergleich Mammutzahlen: die Stadt verzeichnete in ihrem stärksten Monat, dem August 2019, fast 3,4 Millionen Übernachtungen. Durch die Pandemie sind die Zahlen seitdem stark zurückgegangen, doch waren es immer noch rund 2,3 Millionen Übernachtungen im selben Monat in 2021.
Simulationsspiele wie The Bus sprechen zudem nicht etwa alle potenziellen Tourist*innen, sondern eine ganz bestimmte Art von Spieler*innen an, die entsprechende Titel in ihrer Nische verfestigt. Solche, die zum Beispiel auf kreative Art und Weise zahlreiche Mods entwerfen, die das Spiel individualisieren und damit andere Spiel- und auch Reiseerfahrungen möglich machen.
Nicht nur aufgrund der Early-Access-Phase wirkt das Berlin in The Bus allerdings vielerorts wie eine Fassade, die beim Spielen oft leer und limitierend bleibt. Das Sony Center am Potsdamer Platz – ein Bauensemble mit zahlreichen Cafés und Restaurants auf Erdgeschossebene – ist beispielsweise mit einer Audiospur hinterlegt, die die Kulisse beleben soll. Klirrendes Geschirr und zahlreiche Gespräche sind zu hören, doch die Tische und Sitze innerhalb des Centers sind leer.
Erinnerung statt Abenteuer
Zwischen dem Abhaken von Sehenswürdigkeiten und der ressourcenbedingten Leere dazwischen wirft The Bus auch die Frage auf, was eine deutsche Stadt ausmacht. Sind es Sehenswürwdigkeiten wie der Alexanderplatz, das Brandenburger Tor? Oder ist es der Aldi um die Ecke und die bunten E-Bikes, die an den Straßen stehen? Oder die Haltestellenansagen mit der Stimme von Helga Bayertz?
Einen tatsächlichen Besuch in Berlin wird The Bus wohl nicht ersetzen können. Anders als typische AAA-Spiele greift es auch nicht auf ein episches Abenteuer zurück, noch appelliert es visuell an Popkultur oder greift in andere Medien über. Trotzdem ist The Bus detailliert genug, um Wiederkehrenden neue Blickwinkel auf die Stadt zu eröffnen, aber auch simpel genug, die essentiellen Strategien von Videospielen aufzuzeigen, um diese Welten besuchbar zu machen. Berlin ist eine Reise wert – sowohl analog als auch digital.