Queere Entwickler*innen brauchen keine Repräsentation, sondern ein sicheres Einkommen
Laut einer 2019 veröffentlichten Studie der ADL haben 35 Prozent der LGBTQIA+-Spieler*innen in Onlinespielen schon einmal Belästigung aufgrund ihres Geschlechts oder sexueller Orientierung erlebt. Publisher haben sich noch immer nicht von der sexistischen Kultur der 80er gelöst und selbst in Indie-Studios, die für ihre bahnbrechende Repräsentation gleichgeschlechtlicher Liebe gelobt wurden, herrschen toxische Arbeitsbedingungen.
"Repräsentation in AAA-Spielen ist gut, aber Repräsentation ist nicht genug", sagt Taylor. Taylor ist eine der Organisatorinnen des Queer Gaming Bundle, das über 500 Spiele von queeren Entwickler*innen zum Preis von einem einzigen AAA-Game anbietet. Gemeinsam wollen sie den Pride-Monat nutzen, um Künstler*innen nicht nur moralisch, sondern auch materiell zu unterstützen.
Dass immer mehr LGBTQIA+-Figuren in Blockbustern wie Assassin's Creed und Overwatch auftauchen, reiche dafür nicht. "Wir müssen anfangen, über den Vertrieb und die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit von Künstler*innen und Indie-Entwickler*innen zu sprechen", sagt Taylor. "Die Repräsentation in AAA-Spielen reicht nicht aus, um eine Arztrechnung zu bezahlen."
Über die Grenzen der Repräsentation hinaus
Fast zehn Jahre nach dem frauen- und queerfeindlichen Gamergate haben auch die großen Publisher ein diverseres Publikum für sich entdeckt. Redete sich Ubisoft vor einigen Jahren noch damit heraus, Frauen seien zu schwierig zu animieren, feierten Spieler*innen zuletzt die (teilweise) queeren Dating-Optionen für Alexios oder Kassandra in Assassin's Creed Odyssey.
Taylor und Nilson, der andere Mitorganisator des Bundles, verschwenden keine Zeit darauf, Ubisoft, EA und Co. für das Minimum zu loben. So nett die Anerkennung durch die großen Studios sei, so sehr wünscht sich Nilson einen anderen Maßstab für Erfolg. "Ich möchte weg von Spielen, die kommerziell erfolgreich sind, hin zu Spielen, die radikaler sind, mit mehr Poesie, verletzlicheren Spielen, die nicht dem Mainstream-Publikum gefallen müssen", sagt er. "Spiele, die es den Leuten erlauben, ihre Wahrheiten zu erzählen."
Den Menschen hinter dem Queer Games Bundle ist die ökonomische Realität wichtiger, als symbolische Gesten in Regenbogenfarben. "Wir sind der Meinung, dass der Pride Month direkt der queeren Community dienen und sie unterstützen sollte und nicht von kommerziellen Unternehmen vereinnahmt werden darf", erklärt Nilson.
Die Spiele des Queer Game Bundles sind vom glattpolierten Bombast großer Mainstream-Produktionen weit entfernt. Die hunderten Titel repräsentieren einen subversiven, unzensierten Untergrund. Oder: "Wir sind einfach Leute, die Kunst machen, die man spielen kann", wie Nilson sagt.
"Der einzige Ort für echte, persönliche Queer-Geschichten"
Kunst machen und Wahrheiten zu erzählen muss man sich leisten können. Vielen Spielen des Queer Games Bundle ist die Leidenschaft anzumerken, aber auch der Pragmatismus angesichts eines knappen Budgets. Viele Spiele sind mit kostenlosen Tools wie Twine oder Bitsy erstellt, konzentrieren sich eher auf Text als auf Grafik.
"Selbst eine anständige Visual Novel kann in der Entwicklung viel kosten", sagt Nami, "ganz zu schweigen von anderen Spielgenres, die immer teurer geworden sind." Die Entwicklerin ist mit ihrer Visual Novel Zeitz Machz im Bundle vertreten. "Selbst wenn du ein*e Solo-Entwickler*in bist, kostet die Bewältigung der vielen Aspekte der Spielentwicklung viel Zeit. Das kann ein sehr stressiger Prozess sein, da du dich auch um deinen Lebensunterhalt kümmern musst."
Dass sie und viele andere Entwickler*innen dennoch ihre Freizeit und Ersparnisse dafür opfern, ist mehr als ein Hobby. "Meiner Erfahrung nach scheint es im Moment so zu sein, dass der einzige Ort für echte, persönliche Queer-Geschichten in Indie-Projekten zu finden ist", sagt Peter Martingell, der Entwickler von A Day of Maintenance und ein weiterer der rund 500 queeren Kreativen.
Auch wenn sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 mehr als ein Fünftel der britischen Gamesindustrie als LGBTQ+ identifizieren, erzählen queere Menschen nur selten ihre eigenen Geschichten in großen Spielen. Also bleiben nur in der Freizeit entwickelte Indies.
Auch Taylor, die Mitorganisatorin des Bundles und selbst Spieleentwicklerin, kennt diese Realität. "Ich mag es, Geld für Essen zu haben", sagt sie, irgendwo zwischen schnippischem Kommentar und bitterem Ernst. "Die wöchentlichen Fahrten zu 7-Eleven sind angesichts der Inflation zu teuer für mich, so dass ich mir jetzt keine Maxi-Limo und eine Buffalo Chicken Roller mehr leisten kann."
Die Teuerungsrate betrifft vor allem diejenigen, die ohnehin schon an der Armutsgrenze leben. "Ich bin nicht krankenversichert und konnte seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr zum Zahnarzt gehen", so Taylor. In den USA, in denen viele der Teilnehmer*innen des Bundles leben, gibt es keine gesetzliche Krankenversicherung. Wer eine echte Absicherung möchte, muss privat zahlen – und sich das leisten können.
Game-Bundles als Werkzeug des Aktivismus
Doch auch wenn das letztjährige Bundle keine Umsatzrekorde aufgestellt hat, konnte es Menschen helfen. Teilnehmer*innen hätten ihren Anteil genutzt, um Miete und medizinische Versorgung zu bezahlen oder auch die Entwicklung ihres nächsten Spiels zu finanzieren.
Bundles voller Indie-Games zum Schnäppchenpreis sind nicht neu. Seit 2010 das erste Humble Bundle erschien, ist das Konzept fast omnipräsent. Die Idee: Entwickler*innen tun sich zusammen, um Spiele günstiger als zum Einzelpreis anzubieten und teilen die Gewinne unter sich auf. Das eröffnet gerade unbekannteren Titeln ein neues Publikum.
"Wir haben uns von anderen Organisator*innen inspirieren lassen, insbesondere von Indiepocalypse und Kritiqals Anti-Cyberpunk-2077-Bundle", sagt Nilson. In den letzten Jahren wandelten sich derartige Bundles vom Indie-Game-Ausverkauf immer häfiger zum Mittel des Aktivismus.
Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gab es ein Bundle for Ukraine, auf dem Höhepunkt der antirassistischen Proteste im Jahr 2020 ein Bundle for Racial Justice and Equality. Beide sammelten mehrere Millionen US-Dollar. Ein Ziel, von dem das Queer Games Bundle noch weit entfernt ist. 2021 kamen 112.627,04 US-Dollar zusammen, angepeilt waren 5 Millionen.
Einer der Gründe dürfte auch sein, dass prominente Titel fast vollständig fehlen. Für sich genommen sind nur wenige Titel aus dem Queer Games Bundle an ein Mainstream-Publikum anschlussfähig. Zu den bekanntesten Spiele in diesem Jahr zählen 2064: Read Only Memories, A Normal Lost Phone oder Everything Is Going To Be Okay – reichweitenstarke Indie-Hits wie etwa Celeste fehlen aber.
Spiele über persönliche Wahrheiten
Genau deren Entwickler*innen benötigen aber wohl auch nicht die finanzielle Unterstützung durch das Bundle. Das Bundle solle denen zu gute kommen, die es brauchen, "Leuten, die Miete zahlen, Leuten mit Rechnungen, Leuten mit Jobs, die nicht genug verdienen", fügt Nilson hinzu.
Wer durch die lange Liste scrollt, entdeckt Kurzgeschichten in Twine und Bitsy, Comics und Zines, textlastige Visual Novels und experimentelle 3D-Spiele. Viele der Spiele sind unprofessionell, unkommerziell – und bieten einen vielschichtigeren Einblick in queere Kreativität als gleichgeschlechtliches Dating in der Weltraumoper.
Zum Beispiel präsentiert das Bundle semi-autobiografisches Textadventures Spiele wie das nur wenige Sekunden lange Take A Piss Like A Woman, über eine Freundschaft, die am Pissoir entsteht, oder die campy Weltraum-Saga My Ex-Boyfriend the Space Tyrant.
"Meine Realität als queerer Spieleautor besteht darin, eine Community mit anderen zu finden und Spiele zu machen, die meine Erfahrungen repräsentieren", sagt Barcley Sherwood. Sein Beitrag im Bundle ist ein analoges Würfelspiel über die Wut, von einer vertrauten Person falsch gegendert zu werden. "Als queerer Spieleentwickler geht es darum, der Welt zu zeigen, dass Spiele nicht so sein müssen, wie wir sie immer gesehen haben."
Eine Bühne für alle, die sonst keine bekommen
Diesen Spielen und ihren Macher*innen will das Bundle eine Bühne bieten, die ihnen sonst nur selten zuteil wird. "Es ist uns wichtig, das Bundle so vielen Leuten wie möglich vor die Nase zu setzen", sagt Nilson. "Die Leute in unseren unmittelbaren Kreisen werden von dem Bundle wissen, aber wir wollen, dass auch Leute es kaufen, die normalerweise keine Spiele spielen."
Wäre das Queer Games Bundle ein so großer Erfolg, würde Entwickler*in Jon Greenall "gerne ein Projekt in einem viel größeren Rahmen entwickeln", erklärt Jon Greenall. "Es macht unsagbar viel Freude, die Dinge, die man sehen möchte, in die Welt zu bringen und mit der florierenden Gemeinschaft der Queer-Entwickler zu interagieren." Gleichzeitig beschreibt Greenall die "ständige Tretmühle der Selbstvermarktung", diese Spiele an ein größeres Publikum zu bringen, als zum Verzweifeln.
Auch die Visual-Novel-Entwicklerin Nami kennt diesen Frust: "Ich muss zugeben, dass ich oft von den Medien, der Presse und Streamer*innen auf meiner Marketingrunde abgelehnt wurde, weil sie LGBTQ+-Inhalte nicht begrüßten." Die Unterstützung für das Queer Games Bundle hätte ihr aber gezeigt, "dass es da draußen Menschen gibt, die sich um uns kümmern und bereit sind, uns zu unterstützen."
"Ein bisschen weniger menschliches Leid in der Welt"
Das Queer Games Bundle entsteht angesichts einer dystopischen Gegenwart. Zahlen der UCLA aus dem Jahr 2019 zeigten, dass überproportional mehr queere als sich als heterosexuell identifizierende Menschen in den USA in Armut lebten. Und auch in Deutschland sind queere Menschen häufiger von Altersarmut betroffen.
"Was für einen Fortschritt kann die LGBT-Gemeinschaft für sich verbuchen, wenn wir immer ärmer werden und immer weniger Zukunft haben?", fragt Taylor. "Viele von uns haben keine Zukunft, und egal, wie viel Fortschritt oder Repräsentation da sein soll, das ändert sich nicht. Diversity und Inklusion sind für reiche queere Menschen, um ihre Karriere voranzutreiben, nicht für normale Menschen."
Das Queer Games Bundle allein kann die Welt nicht zu einem gerechteren Ort machen. Und doch ist die Hoffnung, die mit dem Erfolg des Bundles verknüpft ist, nichts anderes als utopisch. "Stell dir vor, was die Entwickler*innen und Künstler*innen in einem Jahr erschaffen könnten, wenn sie sich keine Sorgen machen müssten, zu verhungern oder ihre Miete zu bezahlen", schreiben die beiden auf der Seite.
"Queere Menschen würden glücklich ihr Leben leben und das tun, was sie lieben", antwortet Taylor auf die eigene Frage. Das Bundle könnte mit seinen kleinen Möglichkeiten viel möglich machen. "Es gäbe alles, mittelmäßige Kunst, wunderbare Kunst und alles darüber hinaus. Es gäbe ein bisschen weniger menschliches Leid in der Welt." Etwas utopischeres als das kann man sich kaum vorstellen.