Mountainbike-Spiele werden vom Ellbogen-Trash zum Indie-Naturerlebnis
Mountainbiken als Sport wird seit den 1990er Jahren in Videospielform verpackt. Kann das funktionieren? Wir haben Mountainbiker*innen und Spieleentwickler*innen gefragt.
Hände am Lenker. Ein Finger links und rechts bremsbereit. Ein Stück nach vorne noch, langsam. Da ist die Kante. Der Drop in. Das Holzelement, hinter dem erstmal nichts mehr kommt außer Airtime. Bis nach unten – sehr viel weiter unten – zur Landung. Das Gras neben der Holzrampe bewegt sich im Wind. Im Hintergrund schneebedeckte Gipfel. Ein Stück zurück, ein klein wenig Anlauf, nicht zu schnell, bloß nicht im Flat landen, da zerschellt man nur, und dann drüber. Hinunter.
In dem kostenlosen Spiel MTB Freeride von 2015 macht man genau das: Freeriden. So nennt man im Mountainbike-Sport einen Fahrstil, der das Downhill-Fahren im Gelände mit akrobatischen Einlagen wie Sprüngen oder Tricks verbindet. Das Besondere an dem Simulator ist die Ego-Perspektive. In den meisten Mountainbike-Spielen wird die Bergabfahrt aus der Verfolger- oder Seitenperspektive inszeniert. Hier hat man direkt den Lenker in der Hand und den Trail vor der Nase.
Simulator auch deswegen, weil die Physik realistischer ist als in anderen Mountainbike-Spielen. Um einen Sprung zu stehen – also erfolgreich zu meistern – müssen Geschwindigkeit, Absprung und Landung passen, (fast) wie auf der echten Abfahrtsstrecke. Das Spiel wirbt genau damit, das Mountainbike-Erlebnis authentisch abzubilden. Dabei ist der Adrenalinkick inzwischen gar nicht mehr die einzige Art, Mountainbiking auch virtuell zu erleben.
Mountainbiken ist ein Millionenmarkt
Der Markt für diese Spiele ist da, auch in Deutschland. "Heute gibt es annähernd 16 Millionen Menschen in Deutschland, die oft oder ab und zu Mountainbiken", meint Ingmar Hötschel von der Deutschen Initiative Mountainbike, kurz DIMB, dem bundesweit größten Interessenverband für Mountainbiker*innen. "Mountainbiken in Deutschland hat sich zum Breitensport entwickelt."
Das Medium Videospiel greift Trendsportarten immer wieder auf. Von Tony Hawk's Pro Skater bis zu Ubisoft Riders Republic, das von Freeride-Mountainbiken bis Raketen-Wingsuit-Fliegen die ganze Palette an Extremsportarten anbietet. Natürlich wird dabei auch das Fandom des Phänomens Mountainbiken angezapft. In den Spielen wird das integriert, was auch draußen kommerziell funktioniert: Bekannte Marken und Persönlichkeiten.
In Shred 2 steuert man die Mountainbike-Legende Sam Pilgrim, in Riders Republic fährt man auf Rädern realer Hersteller wie Specialized, Commencal und Santa Cruz, aber auch deutsche Marken wie Young Talent und Canyon. Ubisoft verpflichtet sogar den österreichischen Mountainbikefahrer Fabio Wibmer, der vor allem für seine spektakulär inszenierten Videos auf YouTube bekannt und gerade unter Kids und Teens populär ist.
Die Geschichte des Mountainbikes beginnt Ende der 1970er Jahre mit den ersten umgebauten Rädern, mit denen geländemutige Radenthusiast*innen die Schotterpisten im kalifornischen Hinterland hinunterstauben. So richtig Fahrt nimmt der Nischensport erst ab den 1980er Jahren auf: 1981 bringt Specialized das erste in Großserie produzierte Mountainbike auf den Markt, 1996 wird Mountainbiken olympische Disziplin.
28 Jahre von der Erfindung des Mountainbikes bis zum Durchbruch als Videospiel
Drei Jahre später erscheint mit No Fear Downhill Mountainbike Racing für Playstation dann eines der ersten Spiele, das sich an realen Abfahrtsstrecken orientiert. So ein richtiger Hit ist es nicht. "Dieses Downhill-Mountainbike-Rennspiel hat einen ganz eigenwilligen Spaßfaktor, der technischen Umsetzung wegen bekommt es aber nicht mehr als zwei Sterne", schreibt das Magazin Next Generation.
Überhaupt scheinen die meisten Mountainbike-Spiele ein Sammelbecken für Trash und tumbe Technik zu sein. Pionier unter den Mountainbike-Spielen ist der Mountain Bike Simulator von Codemasters aus dem Jahr 1991 für ZX Spectrum. In einem Sidescroller steuert man einen Biker Pixelberge hoch, runter und über Hindernisse hinweg. Hintergrund des Spiels, laut Spieleanleitung: "Mountainbiken ist eine der trendigsten Sportarten heutzutage! Du trägst die hippste, bunteste Ausrüstung und fährst das modernste Fahrrad."
Ein Marketing-Motiv, das sich seit den 90er-Jahren wenig verändert hat. Von No Fear Downhill Mountainbike Racing über Downhill Domination oder Red Bulls Bike Unchained 2 – im Zentrum stehen Geschwindigkeit und Adrenalin. Wie bei anderen Sportspielen nimmt der Wettkampfaspekt bei den meisten Mountainbike-Spielen eine große Rolle ein.
"Beweise in den Ranglistenrennen, dass keiner schneller den Berg runterrast als du, und werde zum besten Fahrer der Welt", heißt es bei dem von Red Bull finanzierten Mobilegame Bike Unchained 2. Und im 2003 von Sony herausgegebenen Downhill Domination dürfen sogar die Ellbogen eingesetzt werden – im wahrsten Sinne des Wortes. Konkurrent*innen können über gezielte Stöße oder Kicks ausgeschaltet werden. Combat-Mode statt sportliches Fair Play. Das Medium Videospiel bedient so das stereotype Bild vom meist männlichen Downhill-Fahrer als rüpelhaften Rowdy.
Mountainbiking ist mehr als Radfahren für Rowdys
Mountainbiken als Sport hat viele verschiedene Spielarten mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Selbstbildern.
Im Cross-Country, der Mountainbike-Art, die olympische Disziplin ist, stehen Fitness und Kondition im Zentrum. In Rundkursen werden steile Anstiege und technisch anspruchsvolle Abfahrten bewältigt. Bei den Rädern liegt hier der Fokus auf Leichtigkeit und Wendigkeit, entsprechend werden leichte Materialien wie Carbon verbaut.
Die Disziplin Enduro, die in den vergangenen Jahren zunehmend populärer geworden ist, verbindet Anstiege mit technischen Abfahrten. Die Räder sind mit mehr Federweg ausgestattet, haben Gabel- und Dämpferfederung und der Fokus liegt auf naturnahen Trails. In diesem Bereich bewegt sich auch das Mountainbiken als Freizeit- und Breitensport.
Beim Downhill geht es, wie der Name schon sagt, um die Abfahrt. Und das, so schnell es geht. Geschwindigkeiten bis zu 80 Stundenkilometer, riesige Sprünge und Drops und grobes Gelände mit Wurzel- und Steinfeldern verlangen den Rädern einiges ab. Entsprechend liegt der Fokus hier auf Stabilität – was mit entsprechend schwereren Bauteilen einhergeht – maximaler Federung von um die 200mm und einer Rahmengeometrie mit flachen Lenkwinkeln, tiefer Front und hecklastiger Sitzposition für einen optimalen Schwerpunkt. Bergauffahren ist mit Downhill-Rädern nur sehr bedingt möglich. Downhiller-Bikes findet man deswegen meist in liftunterstützten Bikeparks mit eigens angelegten Strecken.
Die Disziplin, die aber in Videospielen dominiert, ist Freeride. Die Fahrer*innen bewegen sich hier über teils natürliche Klippen und Kanten, teils über künstlich geformte Wegstücke den Berg hinunter. Und das mit möglichst beeindruckenden akrobatischen Einlagen wie Backflips (im Sprung rückwärts das Rad um die eigene Achse drehen) oder No-Hander (im Flug beide Hände vom Lenker nehmen).
Ein lukrativer Extremsport
Das Spektakuläre ist das, was in Spielen vorrangig aufgegriffen wird. Die meisten Mountainbike-Spiele bewegen sich im Bereich Freeride oder Downhill. Auch außerhalb von Spielen wird Mountainbiken medial bewusst als tougher Extremsport inszeniert, weil es sich hier optimal vermarkten lässt. Mit großer Marketingschläue hat sich hier vor allem der österreichische Energydrink-Konzern mit seinem Red Bull Media House positioniert.
Der betreibt seit Jahren äußerst erfolgreich Markenpflege, indem er spektakuläre Sport-Events in actionreichen Disziplinen wie Wingsuit-Springen, Base-Jumping, Wellenreiten oder eben auch Mountainbiken erschafft und entsprechend wirkungsvoll inszeniert.
Der Umsatz des Engergydrink-Unternehmens liegt 2021 bei über sieben Milliarden Euro – Tendenz steigend. Zielgruppe ist vor allem ein junges Publikum, das durch die Events angesprochen werden soll. Adrenalin, Action, anders. Da passen gerade Mountainbike-Disziplinen wie Downhill und Freeride gut ins inszenierte Bild. Kritik gibt es immer wieder, auch weil einige der Höher-Schneller-Weiter-Events dieser Machart tödlich enden.
"Dazu braucht es keinen Wettkampf"
Gleichzeitig verschiebt sich in den Mountainbiken-Spielen der Fokus. Es gibt Ansätze weg vom Wettkampf und den wortwörtlichen Downhill-Domination-Ellbogen, hin zu einem entspannteren Erlebnis. Das 2019 erschiene Descenders ist zwar noch eher Abfahrt der alten Art – mit Bergab-Bombast und Trick-Kombos. Im gleichen Jahr erscheint auch ein Spiel, das einen ganz anderen Weg einschlägt. Lonely Mountains Downhill des Berliner Indie-Studios Megagon Industries verspricht "ein Mountainbike-Spiel der anderen Art."
Geschäftsführer und Entwickler Jan Bubenik berichtet: "Das Spiel ist das Ergebnis vieler explorativen Iterationen – es gab also nicht von Anfang an das eine klare Konzept." Als Megagon-Mitgründer Daniel Helbig an einer Spielidee feilte, "in der man Offroad Trucks über stilisierte Bergen steuert", kombiniert Bubenik sie mit Mountainbikes, "also die reduzierte Steuerung mit den stilisierten Bergen – nur eben mit Mountainbike."
Eine Idee, zu der er einen ganz persönlichen Zugang hatte. "Im Alltag in Berlin bin ich in den letzten zehn Jahren zwar fast jeden Tag mit dem Rad gefahren, allerdings bin ich in meiner Jugend viel mit dem Mountainbike durch die Wälder gefahren. Lonely Mountains Downhill war für mich daher eine Rückkehr zum Mountainbike", sagt er. "Im Spiel, aber auch auf den echten Trails, denn irgendwann in der Mitte der Entwicklungszeit musste ich mir dann doch endlich wieder eins zulegen und habe es nicht bereut."
Im Gegensatz zu vielen andern Mountainbike-Spielen steht in Lonely Mountains Downhill nicht der kompetitive Aspekte im Vordergrund, sondern "ein unvergesslicher Ritt durch eine unberührte Berglandschaft", wie es auf Steam heißt. "Radfahren, vor allem in der Natur, war für mich immer eine Sache, bei der ich sehr bei mir war – oft mit fast schon therapeutischem Charakter", sagt Bubenik. "Es ist eine Sache, bei der ich in meinem persönlichen Rhythmus zwischen an meine Grenzen gehen und die Ruhe des Moments genießen pendeln kann. Und dazu braucht es keinen Wettkampf – ganz im Gegenteil."
Ein Spiel als Antithese zur totalen Kommerzialisierung des Sports
Dieser Gedanke wird zentral für die Entwicklung des Spiels. "Schnell war uns klar, dass wir ein Spiel machen wollten, das eben die Antithese zum ständigen Wettkampf, den Sponsoring-Bannern und der jubelnden Mengen im Energie-Drink-Rausch sein sollte", so Bubenik. "Gleichzeitig wollten wir es den Spielenden freistellen, wie das Spiel gespielt werden soll – daher bietet Lonely Mountains Downhill auch kompetitive Bestenlisten an, ohne diese irgendwem aufzuzwängen."
Mit dem Mountainbiken, wie es die meisten Freizeitsportler*innen erleben, haben viele Spiele nur noch wenig zu tun: "Während der 360-Front-Flip beim 30-Meter-Sprung das Ganze zwar spektakulär und aufregend macht, ist das Gefühl dabei schwer nachzuvollziehen, wenn man selbst in echt bei einem überraschenden 50-cm-Drop lieber mal die Notbremse reinhaut", sagt der Entwickler. "Die Brücke vom Gefühl auf einem echten Rad zu sitzen hin zum Gameplay geht hier leider oft verloren."
"Ich ziehe es vor, meine Zeit mit dem real thing zu verbringen"
Genau da will Lonely Mountains Donwhill ansetzen und schafft so gewissermaßen nicht nur den Sprung in eine authentischere Darstellung von Mountainbiken, wie es viele Menschen erleben, sondern auch, den Mountainbike-Videospielen einen Aspekt hinzuzufügen, der da draußen, zwischen den Bäumen, auf dem Trail, hinter dem Lenker, vielleicht sogar das Herzstück ist: Das Erlebnis des Entdeckens. Oder, wie es der professionelle Mountainbiker Brian Lopes ausdrückt: "Mountainbiken ist eine spaßige, aufregende, herzrasen-verursachende, erinnerungen-bauende Art und Weise die Welt zu entdecken."
Solche echten Stars der Szene bleiben dennoch weiter den kommerzielleren Extremsporttiteln der großen Publisher vorbehalten. "Sony hat mich damals wegen Downhill Domination kontaktiert – dass ich da als Spielcharakter auftreten soll", erzählt Lopes, der in seiner Radsportkarriere mehr als fünfzehn Titel gewonnen hat. "Ich habe das Spiel nach Release sogar mal gespielt, aber das ist jetzt fast zwanzig Jahre her."
Wirklichen Zugang zu solchen Spielen hat er nicht gefunden. "Ich selbst spiele sehr selten Videospiele. Als ich jung war, habe ich Arcade Games wie Pac Man oder Donkey Kong gespielt", sagt er. "Aber das Spielen von Zuhause aus – da bin ich nie wirklich reingekommen. Ich ziehe es vor, meine Zeit mit dem real thing zu verbringen." Für ihn ergibt die Übertragung in ein Spiel keinen Sinn. "Wenn man die Möglichkeit hat, das in Echt zu erleben, dann sollte man das tun."
In der Pandemie entdecken viele Biker*innen die Wege vor ihren Haustüren – ebenso wie Spaziergänger*innen, die sich wegen der Ausgangsbeschränkungen vor allem stadtnah ungewohnt ballen. Die Lage spitzt sich vielerorts zu. Anders als etwa bei Wanderwegen fehlt die Infrastruktur für Mountainbiker*innen in Deutschland größtenteils. Das führt dazu, dass Mountainbiken meist auf denselben Wegen stattfindet, auf denen auch alle anderen Waldnutzer*innen unterwegs sind. Dabei tauchen in der Bergunfallstatistik gar keine Kollisionsunfälle auf.
Das Bild vom testosterondominierten männlichen Mountainbiker in Fullface-Helm, der rücksichtslos Großmutter samt Dackel vom Weg prescht oder querfeldein fährt und dabei Naturschäden hinterlässt ist ein Klischee, das sich hartnäckig hält. Auch, weil das Mountainbiken medial entsprechend inszeniert wird. "Es gibt noch viel zu tun, was die Aufklärung und den Abbau von Vorurteilen rund um unseren Sport anbelangt; ebenso bei den Rahmenbedingungen dafür, etwa auf rechtlicher Seite", sagt Ingmar Hötschel von der DIMB.
"Viele Mountainbike-Spiele versuchen so viel Action wie möglich in das Gameplay zu packen", meint Bubenik. "Sie stellen den Sport als Extremsport dar, was er natürlich sein kann, aber für die meisten Radfahrenden eben nicht ist." Das Marketing-Bild vom Mountainbiken ist damit so kommerziell erfolgreich wie problematisch. Mountainbiken will unbedingt cool sein und wirkt dabei streckenweise selbstzerstörerisch. Dabei ist der Sport so viel mehr – egal ob virtuell oder im echten Wald.