Wie sich deutsche Fantasy von ihrer sexistischen Vergangenheit löst
Fantasy aus Deutschland hat den Ruf, eher altbacken zu sein. Autor*innen wie die Vögte bringen progressive Ideen in die phantastischen Welten.
Die deutsche Phantastik – also deutschsprachige Fantasy und Science Fiction – genießt einen eher zweifelhaften Ruf. Ein wenig angestaubt, ein wenig ungelenk und hölzern, immer ein paar Jahre hinter den großen Entwicklungen auf dem internationalen Markt. Das gilt oft auch für Tabletop-Rollenspiele.
Wo im englischsprachigen Raum über Barrierefreiheit für Charaktere mit Rollstuhl in Dungeons and Dragons diskutiert wird, geht es bei Das Schwarze Auge um antisemitische Stereotype und sexistische Klischees. Das deutsche Vorzeige-Rollenspiel scheint für viele im besten Fall irgendwo zwischen starren Regelsystemen und Würfeltabellen festzukleben. Dieser Eindruck, so sehr er auch wahre Wurzeln hat, wird allerdings schon länger aufgebrochen. Doch die Leute, die sich darum bemühen, haben noch viel zu tun.
Progressive Phantastik und die Dekonstruktion des Bekannten
Zu ihnen gehören Judith und Christian Vogt, die als Autor*innen-Duo "die Vögte" einzeln und gemeinsam sowohl Romane als auch Rollenspiele schreiben. Sie gehören auch zu einer Strömung von Fans und Kreativen, die im deutschsprachigen Raum seit 2020 den Begriff der "Progressiven Phantastik" prägen. Das Konzept, so argumentierten Judith Vogt und James A. Sullivan in einem wegweisenden Blogpost, sieht vor, alte Bruchlinien zwischen Fantasy und Science Fiction, aber auch darüber hinaus aktiv neu zu denken. Sie definierten Progressive Phantastik als Geisteshaltung, die nicht nur einfach Genretraditionen aufgreift, sondern sich darum bemüht, sie zu dekonstruieren.
Heute, fast zwei Jahre nachdem sie das Konzept vorgeschlagen haben, sehen sich die drei nach wie vor am Anfang. "Wir haben das Konzept ja immer als offen und einladend angelegt – es war uns wichtig, dass wir darlegen, was wir meinen, ohne dass wir dabei so tun, als hätten wir es erfunden", erklärt Judith Vogt. Die Idee an sich sei ja nicht neu, aber es gibt eine Tendenz, dass Leser*innen und Spieler*innen dezidiert nach progressiven Stoffen suchen und dabei hilft "Progressive Phantastik" auch als Label.
"Es fand sich schnell in den Verlagsprogrammen, und neben Instagram und Twitter auch offline auf Büchertischen und sogar in Schaufenstern. Das zeigt uns eigentlich: Da bewegt sich etwas, es wird wahrgenommen." Gleichzeitig sehen sie sich aber auch ganz explizit nicht als "Torwächter*innen", wie auch James A. Sullivan vor kurzem erst auf Twitter betonte. Der Blogpost, so Judith Vogt, war als Einladung formuliert, auch wenn es inzwischen ein wenig ein Tauziehen um den Begriff gäbe. "All das war nicht unsere Absicht. Progressiv beinhaltet lediglich den Wunsch, voranzuschreiten, und zwar bewusst. Wer mit Bewusstsein für die Klischees der Phantastik etwas Neues, Anderes erzählen will, darf sich eingeladen fühlen, es Progressive Phantastik zu nennen."
Penislängen per Würfeltabelle
Tatsächlich gibt es schon länger eine sich immer stärker vernetzende progressive Szene in der deutschsprachigen Phantastik, die vielleicht nicht alles, aber vieles anders machen möchte.
2018 beendete zum Beispiel Mike Krzywik-Groß, der zuvor acht Jahre lang für Das Schwarze Auge geschrieben hatte, die Zusammenarbeit mit Ulisses Spiele wegen Sexismus und Rassismus im Kontext des Quellenbuchs "Wege der Vereinigungen". Das Buch, das zuerst als Aprilscherz gedacht war, dann aber tatsächlich erschien, sollte erweiterte Regeln und Informationen zur Sexualität in Aventurien anbieten. Am Ende erntete es harsche Kritik, unter anderem für eine Würfeltabelle, nach der Schwarze Charaktere einen Bonus bei der Penisgröße bekommen sollten, aber auch für Sexismus, Rassismus und unterschwellige Queerfeindlichkeit in den Illustrationen.
Der Verlag gab sich in einem Statement wenig kritikfähig und forderte eher noch Lob für die "progressive und, wie wir finden, menschenfreundliche Linie" ein. Der Fall schlug Wellen und seitdem scheint sich hinter den Kulissen bei Ulisses auch einiges getan zu haben. Die deutsche Phantastik und Pen & Paper-Branche ist klein, viele der Kritiker*innen, wie Krzywik-Groß, übten ihre Kritik auch aus einer Verbindung zu DSA heraus und zahlreiche progressive Stimmen der Szene haben über die Jahre selbst für das System geschrieben oder für den Verlag gearbeitet.
Crowdfunding als Alternative zum Verlag?
Dass eine Finanzierung ohne große Verlage nicht einfach ist, wissen die Vögte aus eigener Erfahrung. Ihr Science-Fiction-Rollenspiel Aces in Space, das unter anderem an Serien wie Firefly angelehnt ist, haben sie 2019 bewusst per Crowdfunding finanziert, unter anderem weil ihnen das mehr künstlerische Freiheit bei der Umsetzung bot. "Außerdem erzeugen Crowdfundings gerade im Rollenspielbereich einige Aufmerksamkeit, die man als Nischenprodukt in einem Verlag nicht unbedingt genießt", sagt Christian Vogt.
"Wie sich herausgestellt hat, haben durch die Wahl dieses Wegs die Unterstützer*innen das Projekt selbst stark geprägt durch ihren Input in Form zum Beispiel von Playlists, Kurzgeschichten oder Social-Media-Challenges. Das war eine Community-Anstrengung." Für Spiele funktionieren solche Wege gut, für Romane eher weniger, vielleicht auch weil Spiele grundsätzlich interaktiv sind. Das Problem sei vor allem, dass man bereits eine gewisse Bekanntheit haben muss, um große Projekte erfolgreich finanziert zu bekommen.
"Bei Verlagen hat sich etabliert, dass altbekannten Namen die meisten Ressourcen zugewiesen werden, und bei Crowdfundings wird dieses Problem leider verstärkt", so Christian Vogt. Zwar sei das Thema insgesamt komplex, aber auch hier müssten sich Marginalisierte immer und immer wieder ihren Platz erkämpfen. Das schaffen manche, aber nicht alle. Bei ihrer Patreon-Kampagne sieht Christian Vogt tatsächlich den Aufbau einer eigenen Community als deutlich wichtiger an als die Unabhängigkeit zum Beispiel von Verlagen, wie bei Aces in Space.
Eine Ideallösung sieht er hier nirgendwo. "Progressive Inhalte können sowohl von Verlagen als auch von Crowdfunding und Selfpublishing profitieren. Beides bietet aber auch Nachteile, und in der Realität wurschtelt man sich (vielleicht mit einem Hybridansatz) so durch."
Dabei könnte auch die deutsche Szene mehr leisten – wenn sie besser finanziert wäre. Zum Beispiel durch staatliche Stipendien für Kreative, wie es sie während der Coronakrise gab, oder die Gamesförderung für Videospiele, damit sich eine innovative Phantastikszene sowohl in der Literatur- als auch der Spielebranche entwickeln kann. Denn auch Selfpublishing-Plattformen wie DrivethruRPG oder Itch.io bescheren gerade deutschsprachigen Projekten nur sehr selten die Aufmerksamkeit, die sie bräuchten, um ihren Künstler*innen eine dauerhafte Finanzierung ihrer Ideen zu ermöglichen.
"Wir möchten daran glauben, dass eine Welt sich ändern kann"
Die Idee, dass Progressivität durch Gemeinschaft getragen wird und Traditionen dekonstruieren muss, zieht sich auch sonst durch die Arbeit von Judith und Christian Vogt. Ihr neuester Roman Schildmaid, der im Februar 2022 erschien, dekonstruiert bewusst Klischees der Wikinger-Phantastik und bemüht sich um einen queerfeministischen Gegenentwurf. Statt einer Rachegeschichte eines Einzelkämpfers erzählt Schildmaid die Abenteuer einer Gruppe Frauen, die der Welt, in der sie leben, verloren gegangen sind und sich deshalb als Ausgestoßene gegenseitig beistehen.
Für Judith und Christian Vogt ist das ein Weg, sich vom Mythos eines Einzelkämpfers bewusst zu verabschieden. "Wir möchten glauben, dass eine Welt sich ändern kann, aber dazu braucht es viele Menschen, solidarische Gemeinschaften, in denen auch unterschiedliche Leute zusammenkommen", sagt Judith und Christian fügt an: "Außerdem mögen wir Revolutionen als Gemeinschaftsanstrengung."
Revolutionen als Gemeinschaftsanstrengung, die an vielen Stellen gleichzeitig passieren – ein wenig fasst das auch das Konzept der Progressiven Phantastik zusammen. Im Moment genießt die Idee vor allem in der Literaturbranche durch Autor*innen wie James A. Sullivan, Nora Bendzko, Elea Brandt, Patricia Eckermann oder Tino Falke, die ihre Bücher so zum Beispiel auch auf Twitter mit dem Hashtag verbinden, an Aufmerksamkeit. "Ob es bleibt? Keine Ahnung, wir stecken zu sehr mittendrin, um das abschätzen zu können", meint Judith Vogt. Im Moment stellen sie und andere sich vor allem diesem Mittendrin. Und wollen herausfinden, wohin das führt.