Für Mel Taylor gibt es im Umgang mit traumatischen Erinnerungen kein Richtig und kein Falsch

Das Thema Mental Health ist längst auch in digitalen Spielen angekommen. Abgesehen von bekannten Titeln wie Hellblade: Senua’s Sacrifice und Psychonauts 2 hat hier die Indie-Entwickler*innen-Szene eine Vorreiter*innenrolle. Auch die Spieleentwicklerin Mel Taylor ließ sich für ihr Spiel Blueberry vor allem von Nischentiteln wie Night in the Woods, To the Moon und Florence inspirieren – aber nicht nur. "Es ist durchaus Persönliches von mir drin, vor allem zum Thema Verarbeitung von traumatischen Ereignissen und Erinnerungen", sagt Taylor.

Trotzdem geht es in Blueberry nicht nur um sie. "Ich wollte kein Spiel über mich machen, auch wenn manche Szenen von meinen Erfahrungen inspiriert sind und das auch der Grund für mein großes Interesse an dem Thema ist." Das noch nicht erschienene Jump'n'Run in Cartoonoptik handelt von Blueberry, die Spieler*innen vom Kleinkindalter über den "Turm des Lebens" bis hin zum Tod als Greisin begleiten. Die Erinnerungen der Protagonistin werden dabei als Mini-Games durchspielt, in Platforming-Leveln ihre innere Welt erkundet, und fehlende Erinnerungen gefunden, um ihr dabei zu helfen, diese zu verarbeiten.

Zwei Jobs zur Traumerfüllung

Vor rund vier Jahren zog Taylor mit ihrem damaligen Lebenspartner von Deutschland nach Australien. Dort gründete sie Mellow Games. Als die Beziehung einige Monate später auseinander ging, blieb sie dennoch. "Ich musste erstmal überlegen, wie ich dieses Ereignis verarbeite, und es war extrem schwierig. In ein anderes Land zu ziehen, ist extremer emotionaler Stress, erst recht wenn man danach eine 5-jährige Beziehung beendet", sagt sie.

Lange Zeit war ihr Bleiben dem enormen Aufwand eines erneuten Umzugs geschuldet, aber auch dem komplizierten Verhältnis zur eigenen Familie. "Vielleicht war das auch einer der Gründe warum ich weg wollte." Obwohl Australien, so Taylor, ein tolle Indie-Game-Szene biete und sie dort viele talentierte Spielentwickler*innen kennengelernt habe, seien es eher persönliche als berufliche Gründe gewesen.

Am Ende ist Mel Taylor in Australien geblieben. Neben der Entwicklung von Blueberry arbeitete sie bei Articy Software, dem Entwickler einer Narrative Design Software. Die Gründe hierfür liegen, so Taylor, vor allem in dem Umstand, dass sich bisher noch kein Publisher gefunden habe, der bei der Finanzierung ihres Spiels helfen könnte. Vollzeit an Blueberry zu arbeiten ist ihr momentan also nicht möglich.

Die Protagonistin von Blueberry muss sich ihren Ängsten stellen. (Quelle: eigener Screenshot)

Du bist nicht allein!

Der Wunsch danach, eine persönliche Geschichte mit künstlerischen Freiheiten erzählen zu können, veranlasste Taylor dazu, ihr eigenes Studio zu eröffnen. Inzwischen steckt in dem Indietitel mehr von ihr, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Sie hofft, durch ihren offenen Umgang mit Mental-Health-Inhalten wie Depressionen, Alkoholismus, Burnout, Suizid, aber auch anderen Themen wie Mutterschaft nicht nur sich selbst, sondern auch anderen dabei zu helfen, ihre Probleme zu bewältigen. Es geht ihr darum, Spieler*innen Hoffnung zu geben, dass sie mit solchen Erfahrungen fertig werden können, auch wenn es sehr schwierig ist, und sie nicht alleine sind.

Taylor ließ sich von anderen Spielen ebenso wie von Literatur beeinflussen, die sich mit der menschlichen Psyche, Traumata und der Vergangenheit befasst. Der Roman The Coma von Alex Garland beschreibt eine Reise durch Psyche, Identität und Vergangenheit eines Mannes, der ins Koma fällt. Im Indiespiel To the Moon, welches Taylor ebenfalls als Inspiration angibt, wollen zwei Wissenschaftler*innen einem sterbendem Mann einen letzten Wunsch erfüllen, indem sie durch seine Erinnerungen zurück in seine Kindheit reisen.

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Ein weiteres zentrales Thema in Blueberry ist das Muttersein und die damit verbundenen Selbstzweifel und Herausforderungen. "Damit habe ich mich in den letzten Jahren viel beschäftigt, weil ich nie Kinder wollte, um nicht die gleichen Fehler wie meine Eltern zu machen", erzählt sie. Durch ihre letzte Beziehung kam das Thema dann aber doch auf. Zudem hat Taylor selbst drei Schwestern, die sie als die positive Seite ihrer Familie beschreibt. Zwei davon sind zu einem ähnlichen Zeitpunkt Mütter geworden und mussten sich somit denselben inneren Konflikten stellen. "Eigene Kinder zu haben kann einen dazu bringen, die eigene Kindheit aus einer anderen Perspektive noch einmal zu erleben."

Taylor will mit Blueberry nicht einfach nur eine Geschichte erzählen. Sie möchte andere Menschen dabei unterstützen, zusammen mit der Heldin ihres Spiels, eigene Traumata aufzuarbeiten und neue Sichtweisen ermöglichen. Sie ist sich jedoch bewusst, dass jede*r anders mit belastenden Erfahrungen umgeht und dass manche sich ihren Problemen nicht direkt stellen können oder wollen. "Ich denke, dass das sehr von dem Individuellen abhängt, und auch von dem Zeitpunkt", sagt sie. "Wenn man gerade etwas Schreckliches erlebt hat, ist es vielleicht erstmal eine Zeit lang okay, zu versuchen, es zu vergessen und sich nicht damit zu beschäftigen. Wenn man später das Gefühl hat, sich damit beschäftigen zu wollen, kann man es immer noch angehen."

Nach der Arbeit beim Hamburger Spielestudio Osmotic hat es Mel Taylor nach Australien verschlagen. (Quelle: Privat)

Das Thema ist zu wichtig, um aufzugeben

"Wenn wir keinen Publisher finden, werde ich auf jeden Fall versuchen, das Spiel trotzdem zu Ende zu entwickeln", sagt Taylor. "Dafür ist mir das Spiel zu wichtig und zu persönlich, dass ich es aufgeben würde." Eine 2021 veröffentlichte Demo habe schon positiven Anklang bei Spieler*innen gefunden. Ihr komme es darauf an, Blueberry überhaupt fertigzustellen, selbst wenn das bedeute, dass sich das Unterfangen in die Länge ziehe.

Ein übervoller Terminkalender stellt Taylor immer wieder vor die Herausforderung, das eigene Gleichgewicht zu halten und ihre Kraftreserven nicht vollkommen aufzubrauchen. "Das ist leichter gesagt als getan, aber ich sage immer, es ist ein Marathon und kein Sprint und ich will auch kein Burnout bekommen." Sie versucht sich bewusst Zeit zur Entspannung zu nehmen, Phasen, in denen sie nicht an die Arbeit denkt.

Auch die Entwicklung eines Spiels mit derart "harten Themen" ist ein ständiger Balanceakt, wie Taylor bestätigt. Ihr war wichtig, zu zeigen, dass Blueberry diese Inhalte mit sehr vielen Nuancen behandelt und sie nicht einfach auf ein Storytelling-Werkzeug reduziert. Diesen Balanceakt beschreitet Taylor auch bei der Grafik. Zu "cartoony" soll das Ergebnis nicht aussehen. "Es ist schwierig, diese Balance mit diesem Art Style zu finden, aber wir versuchen es nach dem Motto: light-hearted art style und deep dialogue, falls das Sinn macht", so die Entwicklerin. "Es ist nicht einfach und wir müssen uns in einigen Situationen auch entscheiden, ob wir Dinge überhaupt explizit darstellen wollen."

Blueberry spielt nicht in fantastischen Welten, sondern alltäglichen Situationen. (Quelle: Eigener Screenshot)

Auf der Suche nach einer Lösung für die eigenen Probleme beschäftigte sich Taylor viel mit Traumaverarbeitung und Therapiemethoden. Inzwischen hat es sie wieder nach Deutschland verschlagen – wegen der Familie. "Ich habe drei Schwestern und wir müssen wieder gemeinsam Superhelden sein", schrieb sie im Oktober 2021 auf Twitter. "Ich gehöre zu einer Gruppe von vier und ohne die anderen drei bin ich unvollständig."

Für Blueberry hoffe sie, dass es Spieler*innen eine Art Katharsis gibt, der Protagonistin im Spiel zu helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. "Also nicht einfach nur ein immer schlimmer werdender Zyklus, sondern Selbstreflexion und Selbstliebe zu lernen ist sozusagen das Ziel der Protagonistin", sagt sie. Gleichzeitig soll das Spiel auch Menschen erreichen, die noch nie mit den Themen des Spiels zu tun hatte. "Spieler*innen sollen das Gefühl haben, dass das Spiel einerseits solche Dinge nicht bagatellisiert oder versucht, sie harmloser aussehen zu lassen als sie sind, aber auch nicht sensationalisiert."

Taylor ist bewusst, dass Blueberry vermutlich nicht die Lösung für solche Probleme ist. Vielmehr hofft sie, dass andere Spieler*innen verstehen, dass sie nicht alleine sind. Taylor geht es um Hoffnung, Katharsis und Verständnis für Menschen, die etwas ähnliches durchmachen oder durchgemacht haben. "Da gibt es kein Richtig und Falsch und es hängt davon ab, ob man für sich denkt, etwas Positives aus der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit zu bekommen."