Disco Elysium zu übersetzen war wie einen Roman zu schreiben
Das beste Spiel des Jahres 2019 hat mehr Text als alle Harry-Potter-Bände zusammen. Erleben ließ sich das bisher nur mit guten Englischkenntnissen. Diese Übersetzer*innen haben das endlich geändert.
Disco Elysium, das Debütspiel des estnischen Studios ZA/UM, ist längst kein Geheimtipp mehr. Ganze sieben BAFTA-Nominierungen erhielt der Titel ein Jahr nach Veröffentlichung, drei der Awards räumte das Spiel auch tatsächlich ab. Hierzulande hat sich wohl dennoch manch eine*r den Kauf verkniffen. Denn Disco Elysium erschien anfangs nur auf Englisch. Bei Shootern oder Strategiespielen wäre das vielleicht kein Problem, aber das Spielprinzip des Rollenspiels besteht vor allem aus einem: Lesen von kunstvollen Tatortbeschreibungen und philosophischen Diskussionen.
Ohne gute Englischkenntnisse blieb man also auf der Strecke. Das änderte sich mit dem Director’s Cut 2021. Der lieferte nicht nur noch mehr Inhalte, sondern auch neue Sprachversionen, darunter Russisch, Chinesisch, Spanisch und Deutsch. Bei 1.120.000 Wörten im englischen Skript des Spiels eine wahre Mammutaufgabe für Übersetzer*innen? "Das Skript ist so lang wie alle Harry-Potter-Bände zusammen und Fantastische Tierwesen noch dazu", lacht Julia Steiner, Sprachwissenschaftlerin und freiberufliche Übersetzerin für die Agentur Testronic. Für die Übersetzung hat das Lokalisationsteam bestehend aus Steiner als Lead Editor und fünf Übersetzer*innen von Mai 2020 bis März 2021 gebraucht.
Wie lokalisiert man Rassentheorie?
Über eine Million Wörter übersetzt man nicht am Stück, und die nonlineare Struktur des Spiels erschwert die Arbeit zusätzlich. Um den Überblick zu behalten, hat das Testronic-Team diese Arbeit nach den Locations im Spiel aufgeteilt. "Ich habe zum Beispiel den Buchladen gekriegt, und den Container von Evart, dem Gewerkschaftsboss", so Gesine Preusser, Literaturwissenschaftlerin, freiberufliche Übersetzerin und eine der fünf, die zusammen mit Steiner am Projekt gearbeitet haben. "Ich war froh, dass ich nicht diesen Rassisten bekommen habe."
Besagten Rassisten – Measurehead, Schädelmesser auf Deutsch – hat Florian Niggemeier übersetzt, der selbst Historiker ist und die eindeutigen NS-Anspielungen schlagkräftig übersetzen konnte. Komplexe Verweise auf reale Ideologien wie Kapitalismus, Faschismus oder Sozialismus und deren realpolitische Folgen schlüssig zu übersetzen gehörte laut Preusser und Steiner zu den größten Herausforderungen bei der Arbeit. Gerade den knallharten Rassisten, der sich großzügig bei Hitler und Goebbels bedient, im Deutschen nicht von vornherein zum Hassobjekt zu machen, war nicht einfach.
"Auch in einem Computerspiel muss man die entsprechenden Begriffe verwenden, wenn solche Themen verhandelt werden", sagt Steiner, "aber einige Ausdrücke haben wir doch abgeschwächt. Man merkt auch so, was gemeint ist. Rausgenommen haben wir nichts." Am Ende eines jeden ideologischen Questpfads steht in Disco Elysium zudem die Auseinandersetzung der Figuren mit sich selbst und den Anführer*innen ihrer Ideologie. Diese fast schon wissenschaftlichen (wenn auch nicht immer realistischen) Texte lesbar zu übersetzen, ist anspruchsvoll. Werke von Marx durchgelesen hat das Übersetzer*innen-Team für die Arbeit dennoch nicht – genauso wenig wie von Goebbels. Dafür bleibt keine Zeit, wenn man pro Wort bezahlt wird.
"Limbisches System zwischen poetisch und respektlos, keine Tabus, schwache Imperative ohne 'e' am Ende"
Wenn Figuren an einem Platz blieben, hat die Bindung einzelner Übersetzer*innen an bestimmte Locations funktioniert. Problematisch wurde es erst, wenn Charaktere besonders mobil waren. Figuren, die oft den Schauplatz wechselten, Kim Kitsuragi und der Protagonist Harry vorneweg, gingen so durch die Hände fast aller Beteiligten. Für Julia Steiner hieß das, einen Styleguide für jeden Charakter zu schreiben. "Den bekam das ganze Team, aber eigentlich war er für mich am wichtigsten." Da mit Harrys Charakter fast dreißig verschiedene Persönlichkeitssplitter verbunden sind, die alle eigene Motivationen und Sprechgewohnheiten mitbringen, hat Steiner ihn besonders gewissenhaft dokumentiert. "Limbisches System zwischen poetisch und respektlos, keine Tabus, schwache Imperative ohne ‘e’ am Ende", steht dann etwa im Guide.
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