Die heißeste Spieleplattform des Jahres ist Microsoft Excel
Selbst Indiespiele werden immer hardwarehungriger. Für die Nische der Office Games brauchen Spieler*innen nur ein PDF- oder ein Tabellenkalkulationsprogramm – und die Entwickler*innen einen langen Atem und hohe Frustrationstoleranz.
Videospiele sind eine reine Freizeitbeschäftigung und haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen. Wer in den 80er und 90er Jahren in der Mittagspause trotzdem eine Runde spielen will, muss darauf hoffen, dass die Entwickler*innen an einen "boss key" gedacht haben. Dieses Feature, das zum ersten Mal im Apple-II-Spiel Bezare auftaucht, zaubert Spieler*innen auf Tastendruck Screenshots von harmloser Bürosoftware auf den Bildschirm, wenn Vorgesetzte nach dem Rechten sehen wollen. Heute macht ein kleines Grüppchen Spieleentwickler*innen aus dieser Not eine Tugend und verknüpft auf den ersten Blick glanzlose Büroprogramme wie Microsoft Excel mit interaktiven Spielerlebnissen.
Mit der Programmiersprache Visual Basic und handgefertigten Makros werden nicht nur bekannte Titel wie Tetris oder 2048 nachgebaut, es entstehen auch eigene Spiele wie der Dungeon Crawler Arena.Xlsm oder die Golf-Simulation Spreadsheet Gaming Golf – und das obwohl manche der Macher*innen keinerlei Erfahrungen in der Gaming-Branche haben. "Mein professioneller Hintergrund beschränkt sich zum Beispiel auf das Erstellen von Dashboards, mit dem Angestellte von Unternehmen auf Daten wie Rentenleistungen zugreifen können", erklärt Brad Baker. Baker ist der Entwickler von besagtem Golfspiel und betreibt die dazugehörige Seite Spreadsheet Gaming. "Ich bin kein Entwickler oder Coder. Aber ich habe viele Ideen, die weit außerhalb meiner eigenen Fähigkeiten liegen."
Mit YouTube-Tutorials zum ersten Spiel
Diesen sympathischen Hobbyanspruch sieht man Bakers erstem Spiel an. Die Grafik ist rudimentär und beschränkt sich auf unterschiedliche Grün-, Gelb- und Blautöne in den Zellen, die ein Loch auf einem Golfkurs aus der Draufsicht zeigen. In einem selbsterklärenden Menü wählt man Schläger, Schlagrichtung und Stärke aus und bewegt dadurch den Ball, eine einfache weiße Zelle. Die Idee zum Spiel kommt Baker auf einer Urlaubsreise in Wisconsin kurz nach der Geburt seines zweiten Kindes. Während er in paar Bälle auf seinem Lieblingsgolfplatz schlägt, denkt er darüber nach, dass er jetzt keine Zeit mehr habe, vor die Tür zu gehen, und dass er etwas brauche, um sich zu beschäftigen. "Ich wollte schon immer Spiele entwickeln. Warum also nicht mit Excel anfangen?", sagt er. "Das Programm wird immerhin in allen möglichen Situationen genutzt."
So einfach wie gedacht läuft das Projekt nicht an: "Ich wusste, wie es aussehen sollte, baute auf der Basis dieser Idee einen ersten Prototypen und hatte direkt Probleme, auch nur die einfachsten Formeln zum Funktionieren zu bringen." Baker konsultiert YouTube-Tutorials, in denen Programmier*innen erklären, wie sie bestimmte Makros und Funktionen mit Visual Basic bauen und bringt sich die Programmiersprache Stück für Stück selbst bei. Seit 2017 hat er nach eigener Aussage etwa 300 Stunden in das Spiel gesteckt, heruntergebrochen auf etwa 15 Stunden pro Woche. "Für Iterationen ging sehr viel Zeit drauf", erinnert er sich. "Manchmal steckst du hundert Stunden in einen Aspekt und merkst erst dann, dass du das Ganze nicht komplett durchdacht hast. Und dann verbringst du dutzende Stunden damit, deinen Fehler auszubügeln."
Diese Rückschläge sorgen dafür, dass er die Arbeit an Spreadsheet Gaming Golf vorerst eingestellt hat. Stattdessen arbeitet er gerade an einem Poker-Spiel und einer dazugehörigen KI, die er für weitere Spiele nutzen will – natürlich auch im XLSM-Format. Obwohl es einige Entwickler*innen gibt, die in Excel Spiele zusammenbauen, arbeitet Baker allein. "Ich bin nicht wirklich über eine große Community gestolpert. Aber ich hoffe, etwas ähnliches mit Spreadsheet Gaming aufzubauen", erklärt er. "Ich bin natürlich kein Experte, aber ich denke, dass ich jede Menge Probleme lösen konnte, die vielleicht andere auch haben, und dass ich gutes Feedback geben könnte." Eine große Zielgruppe für seine Spiele hat er zumindest schon mal: Bis Mitte 2021 hatten knapp 52 Millionen Nutzer*innen ein Microsoft-365-Abo inklusive Office abgeschlossen – mehr Kund*innen als in Microsofts Game Pass.
Das Seitenlimit als härtester Gegner
So viele Menschen dürfte Lucas Cimon mit seinem Spiel Undying Dusk nicht erreichen – alleine deshalb, weil der 200.000 PDF-Seiten umfassende Dungeon-Crawler dem Standard-PDF-Reader von Adobe zu viel abverlangt. Um den Titel spielen zu können, muss man sich erst das Open-Source-PDF-Programm Sumatra herunterladen. Dem Softwareentwickler aus Frankreich passt das aber ohnehin gut ins Konzept. "Wenn du in der Privatwirtschaft arbeitest, veröffentlichst du Programme, die irgendwann im Mülleimer landen", erklärt er. "Im Open-Source-Bereich kannst du damit Menschen nachhaltiger helfen."
Dieser Artikel geht noch weiter...